Der „Ami Schlitten“

aufgeschrieben von L. Schirmer | geboren 1950 | Kriminalrat a.D.

1956 zog ich als 6jähriger mit meinen Eltern nach Klietz. Heidestraße 24 war unsere neue Anschrift und mein Zuhause bis zu meinem 20. Lebensjahr. Im Erdgeschoss der kleinen Doppelhaushälfte waren unser Wohnzimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern, eine Küche, die Platz für einen Tisch für vier Personen bot und mit einem gusseisernen Waschbecken ausgestattet war, eine Waschküche und eine Toilette. Das war purer Luxus, gemessen an den Wohnverhältnissen in Petersmark, meinem Geburtsort. Die Toilette war zwar nur einen guten Quadratmeter groß, ohne Heizung und mit nur einem winzigen Fenster versehen aber immerhin, man musste nicht mehr raus. Im September 1956 wurde ich eingeschult. Ich war gern in der Schule. Das Lernen fiel mir nicht all zu schwer, meine Zensuren pegelten immer so um die Note gut, ohne dass ich dafür zu Hause allzu viel Zeit für das Lernen investieren musste. Ein idealer Zustand. Blieb so doch ausreichend Zeit für Spiele und Abenteuer, die geradezu vor der Haustür lagen, denn Klietz und speziell die Seesiedlung, in der ich wohnte, war so stark von dem dort stationieren NVA-Regiment dominiert, dass man als Junge gar nicht drum herum kam, das alles in seine Erlebniswelt einzubinden. Dazu kam, dass in dem Wald, der gleich neben unserer Siedlung begann, bis zum Kriegsende ein Sprengstoffwerk war. Mit dem Pulver, das man dort herstellte, wurde alles, was an Geschoss- und Explosivmaterial im Krieg verwendet wurde bestückt. Von der Gewehrpatrone über die Kartuschen von schweren Geschützen bis hin zu Minen, Granaten und Bomben. Die Konsistenz des Pulvers war dementsprechend unterschiedlich. Da gab es reines Pulver, feinkörniges Pulver aber auch bis zu 30cm lange, Makkaroni-ähnliche Stangen und Platten, groß wie ein 10-Pfennig-Stück, in der Mitte mit einem Loch versehen. Mit diesen Pulverarten und der Munition, die im Wald und im See lag, sollte ich als Kind

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Der „Ami-Schlitten“ Große Teile in und um Klietz waren militärisches Schutzgebiet. Für den Geheimdienst anderer Länder war dieses Gebiet wie ein weißer Fleck auf der Landkarte. Keiner wusste, was dort tatsächlich geschah. Deshalb tauchten immer wieder einmal Fahrzeuge der Militärischen Verbindungsmission (MVM) auf. Obwohl schon im Ort Klietz, an der dort abbiegenden Hauptstraße Schilder ausdrücklich das Weiterfahren von Fahrzeugen der ausländischen MVM untersagten. Aber bekanntlich weckt gerade das, was im Verborgenen bleiben soll, das größte Interesse.

Als Zehnjähriger hatte ich, gemeinsam mit Freunden, ein besonderes Erlebnis. An einem Tag im Herbst waren wir zu dritt in der Gartenlaube meines Freundes Ralf Mühlenbrock. Die Laube befand sich auf der dem Dorf gegenüber liegenden Seite des Sees. Schon im Jahr zuvor haben wir mit den Rädern häufig diese ca. 2 km lange Fahrt unternommen, um dann einige Stunden in dem Garten und der etwas verwühlten Laube zu spielen. Wir waren unter uns und erzählten uns verwegene Geschichten. Das Schönste war, dass mitten in der Laube ein alter, rostiger Kanonenofen stand. Mit Braunkohlenbriketts, die in einer Ecke der Laube lagerten, machten wir Feuer im Ofen, so dass sich eine gemütliche Wärme ausbreitete. Meist schmiedete Ralf, der zwei Jahre älter war als ich Pläne, was wir als Trupp so alles unternehmen könnten. Gute 50m von der Laube entfernt, zwischen Mühlenbrocks Garten und dem Nordende des Klietzer Sees, verlief die B 107. Von der Straße aus hatte man einen freien Blick über einen kleinen Acker und den 50 – 60m breiten See auf das von dieser Seite offene Gelände der NVA. Hier waren in den Doppelhäusern die Soldaten, Unteroffiziere und einige alleinstehende Offiziere untergebracht. Zu sehen war auch der große Gemeinschaftsbau, der die Kantine beherbergte und die Kulturbaracke. Auf dem zum See hin etwas abschüssigen Gelände standen häufig Militärfahrzeuge. LKW mit Pioniertechnik und hin und wieder einmal ein Panzer oder Geschütze. Für uns Kinder war das Alltag und deshalb nicht von besonderem Interesse. An diesem Tag aber gab es ein paar Leute, die sich mehr als üblich für das militärische Objekt interessierten. Ralf, der kurz vor die Laube gegangen war um ein kleines Geschäft zu erledigen, rief plötzlich von draußen: „Ey, kommt mal raus, hier steht ein Ami-Schlitten!“ Sofort waren wir raus aus der Laube und sahen auf der Straße, in Fahrtrichtung Genthin einen für unsere Begriffe riesigen amerikanischen PKW stehen. Das Fahrzeug war mit einer stumpfen graugrünen Farbe angestrichen und stand rechts neben der Fahrbahn, mit zwei Rädern halb in dem kleinen, neben der Straße verlaufenden Graben. Gute 30 Meter hinter dem Fahrzeug, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, standen zwei Männer in dunkelbraunen Uniformen, von denen einer mit einem Fernglas in Richtung Militärobjekt schaute. Der mit dem Fernglas wies mit der Hand auf irgendetwas, das ihn in der Kaserne zu interessieren schien und sein Begleiter hob einen Fotoapparat vor sein Gesicht und fotografierte. Für uns stand fest, dass die Beiden amerikanische Militärangehörige sind. Wir hatten schon davon gehört, dass Amerikaner, Franzosen und Engländer in sogenannten MVM-Fahrzeugen durch das Gebiet der DDR fahren durften. Einige von uns Kindern hatten schon damit geprahlt, dass sie einen „Ami-Schlitten“ mit „MVM-Offizieren“ beim Durchfahren von Klietz gesehen haben.

Eine Militärverbindungsmission (MVM) war eine Armeebehörde, die von den Alliierten des Zweiten Weltkriegs zur Kommunikation mit einer der anderen drei Mächte eingerichtet wurde, wobei gegenseitig Offiziere entsandt wurden. In der Realität wurden solche Behörden aber nur zwischen der Sowjetunion und drei Westmächten eingerichtet, jedoch nicht zwischen den Westmächten. Eine MVM durfte in der fremden Besatzungszone einen Amtssitz unterhalten und Überwachungs- sowie Kontrollfahrten durchführen. In der Zeit des Kalten Krieges wurden diese Privilegien von beiden Seiten zur Spionage verwendet.


Der Kalte Krieg war ein immer währender Konflikt zwischen den Westmächten unter Führung der USA und dem Ostblock unter Führung der Sowjetunion, den diese von 1945 bis in die 1980er Jahre mit allen Mitteln unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges austrugen. Dabei wurden jahrzehntelang auf beiden Seiten politische, ökonomische und militärische Anstrengungen unternommen, bis hin zu Stellvertreterkriegen, um den Einfluss des anderen Lagers weltweit einzudämmen oder zurückzudrängen. (Quelle: wikipedia.de) Die Spuren dieser Auseinandersetzung der Großmächte gingen auch an dem kleinen Ort Klietz nicht vorbei.

An diesem Herbsttag hatte unsere große Stunde geschlagen. Amis, so dicht vor unserer Nase. Die Amerikaner, das hatte sich aus Geschichten der Eltern so eingeprägt, wurde immer in Verbindung gebracht mit Kaugummi und Schokolade. Beides gab es zu dieser Zeit für uns Kinder so gut wie nicht. Schokolade war wirklich nur etwas für besondere Tage. Wer an bei uns produzierten Kaugummi kam, hatte zum einen das Glück eine Rarität in der Hand zu haben, zum anderen das nicht gerade große Vergnügen mit einer harten Masse, die selbst nach langem Kauen nicht das erbrachte, was Kaugummi erbringen sollte, zu kämpfen.

„Los, wir fragen mal, ob die uns was geben!“ brachte Ralf mit vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen heraus. Und schon rannten drei halbwüchsige Bengel über den nassen Gartenweg und ein Stück brach liegenden Acker in Richtung des amerikanischen Fahrzeuges. Noch während des Laufes hörten wir, wie ein dritter Mann, der die Fahrertür geöffnet hatte und dessen Kopf für uns nur kurz über dem Dach des Autos auftauchte etwas in Richtung der beiden Männer rief. Was sich dann abspielte hatte schon etwas Groteskes. Die beiden Militärangehörigen schauten zu uns und liefen dann in ziemlichem Tempo zu ihrem Fahrzeug. Gefolgt von drei kleinen Jungs, die enttäuscht kurz hinter dem Auto stehen blieben, als dieses mit durchdrehenden Reifen vom Fahrbahnrand auf die Straße schlitterte und mit aufheulendem Motor die B 107 Richtung Genthin fuhr. „Oh, Scheiße! Die haben Angst vor uns gehabt.“ War die enttäuschende Feststellung, die wir machten, als wir da allein auf der Straße standen. Na ja, der Tag war für uns gelaufen und wir machten uns mit unseren Rädern auf den Heimweg, nicht ohne uns während der Fahrt laut darüber auszutauschen wie das wäre, wenn die uns vielleicht eine ganze Packung Schokolade gegeben hätten und wir den anderen Jungs in unserer Siedlung unsere Ausbeute hätten zeigen können.

Später erfuhren wir von einem MVM-Fahrzeug, das Ende der 50er Jahre den für die Militärverbindungsmission verbotenen Weg bis in die Seesiedlung gefahren sein soll. Dort befand sich in der Heidestraße das Eingangstor der NVA, das zu diesem Zeitpunkt weit geöffnet war. Das MVM-Fahrzeug soll mit hoher Geschwindigkeit durch das Tor in das Militärobjekt gefahren sein, auf einem dort befindlichen kleinen Platz, 50m hinter der Einfahrt mit quietschenden Reifen gewendet haben und genau so schnell wieder aus dem Objekt verschwunden sein, wie es gekommen ist. Wachposten und andere Angehörige der NVA, die in der Nähe waren hatten gerade einmal Zeit die Augen aufzureißen als der Spuk auch schon wieder vorbei war.


Wesentlich schlechter ist Mitte der 50er Jahre ein illegaler Ausflug für Angehörige der amerikanischen MVM ausgegangen. Mein Vater erzählte mir, dass Soldaten in dem Wald zwischen dem See und der B107 ein kleines Feldlager errichtet hatten. Wer von der B107 aus den Wald durchquerte, hatte von diesem Seeufer auch einen freien Blick in den Bereich der NVA-Kaserne in der der Stab und auch die Truppen untergebracht wurde aber auch auf den sogenannten Wasserplatz. Ein extra Komplex der NVA-Kaserne, auf dem ausschließlich Militärtechnik geparkt wurde und von dem aus die Pioniere zu Übungszwecken Pontons in den See ließen. In den frühen Abendstunden im Juli oder August hatten Angehörige der amerikanischen MVM ihren genehmigten Weg, die B 107 verlassen und sind durch den Wald in Richtung Seeufer gefahren. Hier tarnten sie ihr Fahrzeug in einer kleinen Schonung und begaben sich zu Fuß zum See, sicher um Fotos zu schießen und Informationen über die militärische Ausrüstung zu bekommen. Von dem Feldlager, das etwas abseits ihres Weges am Rande einer Wiese war, hatten sie offensichtlich nichts mitbekommen. Es war mehr Zufall, als das Ergebnis militärischer Wachsamkeit, dass ein Soldat, der im Wald unterwegs war um Pilze zu suchen, das MVM-Fahrzeug entdeckte. Mit seinem Seitengewehr, dass ihm beim Pilze suchen gute Dienste leistete, durchstach er die vier Reifen des amerikanischen Fahrzeuges und lief zurück zu seinem Lager, um den Vorfall zu melden. Vom verantwortlichen Offizier wurde ein verschlüsselter Funkspruch mit den Koordinaten des MVM-Fahrzeuges an die Dienstelle gesandt. Ein ganzer Zug Soldaten machte sich, bewaffnet mit Karabinern und der damals noch üblichen russischen MPi mit Trommel, die in der Regel von Unteroffizieren, die den Stand eines Gruppenführers hatten getragen wurde, auf dem Weg zu dem „feindlichen“ Fahrzeug. Inzwischen war die Besatzung des Autos, drei amerikanische Militärangehörige, zum Auto zurück gekehrt und hatte versucht auf die B 107 zu fahren. Mit den zerstochenen Reifen misslang der Versuch. Sie fuhren sich auf dem sandigen Waldweg fest.

Da Verhandlungen zwischen den Angehörigen der westlichen Militärverbindungsmission nur von gleichrangigen russischen MVM-Angehörigen geführt werden durften, sicherten die Soldaten das Fahrzeug, bis kurz vor Mitternacht ein russischer Geländewagen mit hochrangigen Offizieren eintraf. In ihrer Begleitung waren ein Mannschaftswagen mit einem Zug Sowjetsoldaten und ein Zugfahrzeug nebst Tieflader, wie er zum Transport schwerer Militärtechnik verwendet wurde. Die Amerikaner hatten während der ganzen Zeit ihr Fahrzeug nicht verlassen. Auch als die sowjetischen Offiziere eintrafen sprach einer von ihnen nur durch die heruntergelassene Scheibe der Beifahrertür. Offensichtlich waren die Russen derartige Vorkommnisse gewohnt, denn was danach folgte, hatte etwas von einem eingespielten Ritual. Der Ami-Schlitten wurde nebst Insassen bis auf die B 107 geschleppt und dann auf den Tieflader gezogen. Dort verankerte man das Fahrzeug, warf eine Plane darüber und fuhr davon. Für die Soldaten aus der Klietzer Kaserne war das ein spannendes Ereignis im sonst recht tristen Ausbildungsalltag. Natürlich war die Geschichte, trotz verordneter Geheimhaltung, in Klietz bald herum und wurde sogar von den Kindern auf dem Schulhof in haarsträubenden Versionen weitererzählt.

Das die Amerikaner ihr Auto nicht verlassen haben, hatte einen guten Grund. Solange sie im Fahrzeug blieben, befanden sie sich nach der damals geltenden Rechtslage auf amerikanischem Territorium. Selbst die sowjetischen Offiziere hatten kein Recht das Auto zu betreten oder sie dort heraus zu holen. Solche Szenen endeten in der Regel damit, dass Die Fahrzeuge nebst Insassen zur sowjetischen Kommandantur gefahren wurden. Hier wurden Bedingungen für die Übergabe ausgehandelt, die häufig mit Vorkommnissen ähnlicher Art, die im Westsektor durch die sowjetische MVM begangen wurden, hoch gerechnet wurden.

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Quelle: Das Wissen der Region Band 4