Rückblicke

aufgeschrieben von Torsten Schröder | geboren 1952 | Technischer Zeichner / Kraftfahrter

Eine meiner ersten Aufgaben als junger NVA-Offizier hatte ich in Potsdam zu erfüllen – die Ausgabe und das Einschließen der Bewaffnung für die Soldaten der Objektwache. Ansonsten hielten sich die dienstlichen Aufgaben sehr in Grenzen. Irgendwie ergaben sich Kontakte zu Angehörigen der Sowjetarmee, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Potsdamer NVA-Objekts lebten. Auf diese Art und Weise konnte ich praxisnah meine russischen Sprachkenntnisse erheblich erweitern. Mehr noch – durch das fast tägliche Zusammensein wurden mir auch Einblicke in die russische Seele gewährt. Diese und spätere Begegnungen fand ich spannend, heute vermisse ich sie.

Kein Wunder also, dass ich mich zukünftig um Kontakte zu Sowjetsoldaten bemühte, was ohnehin gewünscht und sogar gefordert war – Patenschaftsarbeit mit dem „Regiment nebenan“. So entwickelten sich Freundschaften zu Offizieren der Fahrschule in Brandenburg an der Havel. Irgendwann fiel dies dem verantwortlichen Offizier für Kraftfahrzeugtechnik in Klietz auf. Hin und wieder fragte er mich nach Ersatzteilen für die russische Technik seines Bereiches, und die „Freunde“ in Brandenburg konnten meist, eigentlich immer, helfen. Ich fühlte mich bald als „nichtstrukturmäßiger Ersatzteilbeschaffer“ der Klietzer Geschosswerferabteilung.

Nach einem „völlig unvorhersehbaren“ Frosteinbruch im Dezember kam es zum Schaden am Zylinderkopf eines LKW, der einigen Vorgesetzten viele Probleme bereitete. Der Kommandeur tobte, von Kasernenarrest für die verantwortlichen Offiziere war die Rede. Sehr rasch und möglichst unauffällig sollte die Einsatzbereitschaft des Lastkraftwagens wieder hergestellt werden. So stand ich im Dienstzimmer des Fahrzeugtechnikers, zunächst ohne Idee, denn die Brandenburger Truppe war auf mehrtägiger Übung, ihrem 1000-Kilometer-Marsch durch die DDR.

Als der Fahrlehrer in ölverschmierter Arbeitskombination, mit etwas schmutzigem Gesicht und unendlich traurigem Blick das Zimmer betrat, kam mir langsam eine Idee. Mit dem defekten Zylinderkopf und einer Flasche Wodka fuhren wir zur sowjetischen Kommandantur nach Stendal. Wir hatten Glück, wurden sofort zum Kommandanten vorgelassen, schleppten den defekten Zylinderkopf gleich mit in sein Dienstzimmer.

„Dieser Genosse,“ ich wies auf den Fahrlehrer, „hat auf seinem LKW die Munition für das Schießen morgen auf dem Klietzer Übungsplatz geladen. Nun steht dieser am Straßenrand vor einer unübersichtlichen Kurve und kommt keinen Meter weiter, denn der Motor des Fahrzeugs ist kaputt. Er benötigt dringend dieses Ersatzteil mit den entsprechenden Dichtungen. Können Sie helfen, bitte?“ Die Flasche Wodka stellte ich auf seinen Schreibtisch und war verwundert, unter der Glasplatte ein Foto Stalins zu sehen. Nun fiel mir auf, dass der Oberstleutnant Georgier zu sein schien.

Er überlegte kurz, brannte sich eine Tabakpfeife an und griff nach einigen Zügen zum Telefon. Von den Telefonaten verstand ich nichts, dann vergingen einige Minuten, in denen wir kein Wort wechselten. Diese Situation war sehr unheimlich, sie kam mir unwirklich vor.

Nach einer gefühlten Ewigkeit summte endlich das Telefon, ein paar kurze Bestätigungen, und der Kommandant stand auf. „Gehen Sie auf die Straße, Ihnen wird geholfen werden. Das,“ er zeigte auf den Zylinderkopf und die Flasche Wodka, „nehmen Sie wieder mit. Alles Gute!“ Ich dankte kurz und wir verließen sein Zimmer.


Vor der Kommandantur wartete ein Fähnrich mit einer Gruppe Soldaten vor einem Werkstattwagen, offensichtlich ein Reparaturtrupp. Wir wollten ja eigentlich nur das Ersatzteil haben, alles Abwimmeln der Leute schlug fehl. Sie folgten uns nach Klietz. Vielleicht haben sie sich gewundert, dass die Instandsetzung nicht am Straßenrand, sondern in einer warmen Halle erfolgte und dass sich keine Munition für ein Schießen auf der Ladefläche des LKW befand. Ich habe sie auch nicht gefragt.

An einem Spätherbsttag des Jahres 1982 war ich mit meinem Moskwitsch von Berlin auf dem Heimweg nach Klietz. Auf der Fernverkehrsstraße 5, der sogenannten Hamburger, war es an diesem Tag etwas anders als sonst. Kaum Verkehr, wo sonst viele PKW und LKW mit ausländischen, vorwiegend westdeutschen und Westberliner Kennzeichen unterwegs waren – auf dem Transit nach Westberlin in Richtung Hamburg oder umgekehrt. Stimmt, irgendwas hatte ich gehört von einem Autobahnabschnitt, der dieser Tage eingeweiht werden sollte oder wurde. Dadurch entfiel der Transit-Status, den die Fernverkehrsstraße 5 innehatte. Dieser Umstand sollte Vor- und Nachteile haben. Es war weniger Verkehr zu erwarten, aber auch keine Westwagen und tolle Reklame an den LKW würden zu bestaunen sein.

Beunruhigend an diesem Tag war für mich, dass die Intertankstelle in Nauen im Dunkeln lag. Konnte man hier sonst rund um die Uhr tanken, war dies von einem auf den anderen Tag nicht mehr möglich. Meine Hoffnung richtete sich auf die Tankstelle in Friesack, aber hier das gleiche Bild. Die meist langsam mahlenden DDR-Mühlen hatten ausnahmsweise sehr schnell reagiert.

Um nun nicht in einer der über 40 Kurven der Fernverkehrsstraße 188 zwischen F5 und Rathenow ohne jeden Tropfen Benzin stehen zu bleiben, richtete ich mich zum Schlafen im Auto an der Tankstelle in Friesack ein. Immerhin wäre ich dann morgen früh der erste Kunde an der Zapfsäule.

Jetzt hörte ich ein Geräusch, das auf ein Armeefahrzeug schließen ließ. Mit Blitzstart fuhr ich hinterher und konnte den „Ural“ der Sowjetarmee stoppen. Die meisten der Sowjetarmee-LKW fuhren mit reinem Benzin, das auch mein Moskwitsch ohne weiteres vertrug.

So verhandelte ich mit dem Fahrer und seinem begleitenden Offizier, einem Hauptmann. Dieser, in Moskau selbst einen Moskwitsch fahrend, freute sich, einem Verbündeten helfen zu können. Ich staunte, wie es dem Fahrer mit ein paar Metern Gartenschlauch gelang, den Sprit aus seinem Tank anzusaugen und in den des Moskwitsch zu leiten. Er lächelte voller Stolz, und ich bezeichnete ihn als Prachtkerl.

Die Kiste „Berliner Pilsener“ wechselte aus meinem Kofferraum in die Fahrerkabine des LKW, und es ging in Richtung Rathenow. Beide hatten das gleiche Ziel. Störend waren für mich ihre Scheinwerfer, die in den Rückspiegeln blendeten. Fast alle Sowjetarmee-LKW waren mit Scheinwerfern ausgerüstet, die stark blendeten. Ich bin ihnen jedenfalls nicht entkommen, trotz manchmal erreichter 120 Kilometer pro Stunde. Der Fahrer muss auf dem Gaspedal gestanden haben.

Als ich ein paar Tage später das Fahrzeug aus der Werkstatt abholte, gab es durch die Schlosser eine Zurechtweisung: „Das nächste Mal, wenn du bei den Russen Sprit gekauft hast, rechtzeitig den Tank leer fahren und deutsches Benzin tanken. Den Gestank vom Russensprit werden wir so schnell nicht los!“ Ein stattliches Trinkgeld glättete die Wogen wieder.


Unsere Nachtschicht aus der Abteilung Transport und Großgeräte des Baukombinats „Altmark“ Stendal sollte innerhalb einer Kaserne der Sowjetarmee kurz vor Gardelegen Erdtransporte vornehmen. Unsere LKW-Kolonne hielt vor dem Eingangstor und kein Rad bewegte sich mehr. Kollegen riefen mich nach vorn zum Diensthabenden: „Wir kommen hier nicht rein!“

Der verantwortliche Unteroffizier akzeptierte unsere Passierscheine für das Kasernengelände nicht, obwohl auf ihnen die Genehmigung auf Deutsch und Russisch stand. Die längere, erfolglose Diskussion mit dem diensthabenden Unteroffizier nervte. Ich blätterte ihm wiederholt die Dokumente aus meiner Brieftasche vor. Plötzlich griff er sich den rosa Passierschein, der uns zum Betreten des Grenzgebietes berechtigte, und strahlte: „Alles in Ordnung. Hier sind zwei Stempel drauf, Ihr dürft rein!“ Offensichtlich konnte er die russische Sprache nicht lesen.

In den letzten Jahren bis zur Wende bewirtschaftete ich als Angestellter des Militärforstwirtschaftsbetriebes Klietz den Klietzer See als Binnenfischer. Dieser See war als Intensivgewässer ausgewiesen, dies zog Angelverbot nach sich. Darüber hinaus gehörte der See zum militärischen Sperrgebiet, dadurch war auch das Betreten bzw. Befahren nicht gestattet.

Aber keine Regeln ohne Ausnahme – bei der Übergabe des Gewässers wies mich der Direktor darauf hin, dass einige Offiziere der Sowjetarmee über von ihm ausgestellte Angelberechtigungen verfügten. Sie sollten dadurch dafür sorgen, dass keine weiteren Angehörigen der Sowjetarmee am See angeln.

Zu den berechtigten Offizieren gehörte auch der Kommandeur des Stendal-Borsteler Flugplatzes, mit dem mich bald freundschaftliche und andere Beziehungen verbinden sollten. Durch seinen Einfluss war es kein Problem, Ersatzteile für PKW russischer Bauart zu besorgen. Keilriemen, Bremssteine und –backen, Auspuffanlagen, Dichtungen … fast alles konnte auf direktem Weg aus Moskau im wahrsten Sinne des Wortes eingeflogen werden. Bis Dienstagabend mussten die Bestellungen aufgegeben sein, am Donnerstag der darauffolgenden Woche waren die Teile hier.

An einem Dienstagabend war ich wieder einmal zur „Bestellannahme“, als mich der Diensthabende aufgeregt zu einem Jeep dirigierte. Es ging zur Betonpiste, wo bereits ein Hubschrauber startklar wartete. Der Platzkommandeur ließ mich im Hubschrauber Platz nehmen, und kurz darauf erlebte ich den ersten Helikopterflug in meinem Leben, wohl auch den einzigen, der vom „Chef“ höchstpersönlich gesteuert worden ist. Er musste sein Pensum an notwendigen Flugstunden absolvieren.

Es ging bis nach Halberstadt und zurück, die Absprachen über die Ersatzteilbeschaffung erfolgten in ziemlich geringer Höhe über der Fahrbahn der Fernverkehrsstraße 189 zwischen Magdeburg und Stendal.

Für mich war es nicht immer einfach, das erwähnte Angelverbot am Klietzer See durchzusetzen. Noch heute gibt es Klietzer Bürger, die mir meine damalige Kontrolltätigkeit nachtragen. Auch auf viele Sowjetsoldaten mit ihrer Liebe zur Natur und dem Jagd- und Fischereiwesen übte der See mit seinen je vier Kilometern Uferlänge großen Reiz aus. Der Militärforstdirektor wohnte selbst am See, und auch ihm blieben die Angelsünden nicht verborgen. So kam er des Öfteren, insbesondere an Wochenenden, zu mir nach Hause: „Schaffen Sie am See endlich Ordnung!“


Ich wies eines Tages den großen, schlanken Major der Sowjetarmee, dessen Kragenspiegel ich keiner Waffengattung zuordnen konnte, auf das Angelverbot hin. „Deutscher,“ erwiderte er, ohne mich eines Blickes zu würdigen, „in diesem Land ist mein Vater gefallen im Jahr 1945. Hier bin ich Besatzer und werde das tun, was ich für richtig halte. Gehen Sie, Deutscher!“ Das hat mich beeindruckt. Zwar machte ich mit meinem Fischerkahn und dem zweieinhalb-PS-Motor kräftige Wellen, also „Sauerstoffanreicherung“ an seiner Angelstelle, doch der Major verließ sie nicht. Er hat an diesem Platz mit Sicherheit keinen Fisch mehr gefangen.

Aber DIE Argumentation des Majors gab mir sehr zu denken. In dieser Art und Weise ist mir die Anwesenheit der Sowjetsoldaten in der DDR nie verdeutlicht worden.
Zukünftig ging ich auch respektvoller mit den Sowjetsoldaten um, die ihre Leidenschaft am See nicht zügeln konnten. So, wie der Leiter des Lazaretts in Jerichow. Der Oberst allerdings entschuldigte sich sogar, bevor ich etwas sagen konnte: „Die Leidenschaft … Und eine Stunde Entspannung in der Natur genießen. Wobei,“ fügte er schmunzelnd hinzu, „ein Karpfen wäre nicht schlecht.“ Ich ließ ihn gewähren und verabschiedete mich. „Besuch mich mal!“ rief er noch hinterher.

Wenig später musste ich an diese Begegnung denken. Mein Zahnarzt offenbarte mir, dass zur abschließenden Zahnbehandlung irgendwelche Materialien fehlen würden. Die könne ich durch direkten „Westimport“ oder über die Freunde besorgen. So nahm ich das Naheliegende, also einen fast 5 Kilogramm schweren Amurkarpfen und startete in Richtung Jerichow. Der Oberst war überrascht, dass ich seiner Einladung zum Besuch gefolgt war: „Endlich mal Abwechslung!“ Ich überreichte ihm den Fisch mit: „Gruß aus der Heimat!“, seine Freude darüber ließe sich hier nur schwer beschreiben.

Unverblümt fragte er mich, was ich denn brauchen würde. Nach meiner Schilderung sagte er nur, dass es werden wird, gab einem Fähnrich ein paar Instruktionen und lud mich zu einer Besichtigungstour durch das Lazarett ein. Mich überraschte seine Hinwendung zu den kranken Soldaten, er fragte sie nach ihrem Zustand, wie ihnen das Essen schmeckt, ob die Zimmer warm genug seien … Ebenso beeindruckte mich sein Verantwortungsbewusstsein, und ich spürte den berechtigten Stolz des Offiziers. Hier war jemand mit Leib und Seele seinem Auftrag verbunden.

Er offenbarte mir seine fünf größten Probleme: die eingeschränkten Krankenbehandlungen wegen fehlender Fachkräfte bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Unzureichende Medikamentenbereitstellung war sein weiteres fachliches Problem, als Nächstes nannte er die mangelnde Ersatzteilversorgung des Fuhrparks. Fast alle Kraftfahrzeugtypen, über die die Sowjetarmee verfügte, waren im Lazarett vertreten. Den baulichen Zustand der Kaserne sah er ebenso problematisch wie die Unmöglichkeit, hieran etwas zu verändern. Mich überraschte, dass es tatsächlich auch Leute gab, die sich zumindest Gedanken hierüber machten. „Mein letztes Problem ist“, wir bogen um die Ecke eines Gebäudes, „die tägliche Futterration für die 150 Tiere sicherzustellen.“ Erst jetzt hörte ich das Quieken der Schweine und nahm den beißenden Gestank wahr.

Selbstversorgung – wie vom Genossen Breshnew, einem früheren Sowjetführer, angeordnet. Das hatte ich in solcher Praxis auch noch nicht in einer Kaserne der Sowjetarmee in der DDR erlebt.

In seinem Dienstzimmer wartete der große, schlanke Major, den ich von der früheren Begegnung am Klietzer See her kannte, sicherlich erkannte er mich wieder. Der Oberst stellte ihn mir als seinen Zahnarzt vor, der Major allerdings reichte mir nicht die Hand, blickte mich auch nicht an. Mit den Worten: „Für den Deutschen das Gewünschte.“ Überreichte er dem Oberst ein Päckchen und meldete sich ab, er hätte noch dringende Dinge zu erledigen.

Der Oberst schob mir das Päckchen über den Tisch, rieb sich nachdenklich die Schläfen. Mit den Worten: „Plötzlich ist es kühl geworden.“, schloss er das Fenster und verabschiedete mich, wie mir schien, sehr hastig.

Quelle: Das Wissen der Region Band 4