Gefährliche Spiele

aufgeschrieben von Lothar Schirmer | geboren 1950 | KR. a.D

Der Kontakt zu explosiven Stoffen hat mich während meiner gesamten Schulzeit nicht verlassen. Die Umgebung, in der ich aufwuchs, ließ mich wie die meisten Kinder geradezu über solche Dinge stolpern.
Wir waren ein Trupp – damals hieß das so – der oft miteinander spielte. Vorbild für die Kinder war Arkadi Gaidars Buch „Timur und sein Trupp“, das wohl jeder Junge kannte, zumal es auch verfilmt wurde. Zum festen Kern unseres Trupps gehörten Ralf Mühlenbrock, der zwei Jahre älter als ich war und meist die Stelle unseres Anführers übernahm, Detlef Seger (jünger als ich), der drei Jahre jüngere Udo Dürr und der mit mir gleichaltrige Fritz Leue. Immer wieder stießen andere Jungs zu uns und verschwanden irgendwann wieder aus unserem Kreis.Unsere Eltern hielten damals Hühner, meist in einem kleinen Zwinger hinter dem Haus. Sie mussten versorgt werden und deshalb gehörte es zu unseren Aufgaben, frisches Grün zu besorgen. Als besondere Delikatesse unter Hühnern galten Muscheln. Ihr hoher Eiweißgehalt bot die Gewähr für hervorragende Eier mit fester Schale. Unser See war mit Muscheln gesegnet. Beim Baden am offiziellen Badestrand, aber auch an den vielen kleinen Badestellen, stellten wir uns bis zur Hüfte ins Wasser, tasteten mit den Füßen den Grund nach spitzen Gegenständen ab und tauchten auch mit dem Kopf unter Wasser. So gelang es uns, eine Muschel nach der anderen aus dem See zu fischen.Eine besonders ergiebige Stelle entdeckten wir gleich hinter dem Zaun des Wasserplatzes, dem Teil des NVA-Objektes, in dem die Technik des Pionierregimentes vom G 5, einem damals modernen Lkw mit Aufbauten zum Transport von Pontons, über Amphibienfahrzeuge bis hin zu unzähligen Bohlen für den Brückenbau abgestellt und alles gelagert wurde, was diese Spezialeinheit benötigte. Um die Muschelernte effektiver zu gestalten, kam jemand auf die Idee, Harken mitzuberingen und damit den Seeboden abzuharken. Das erbrachte zudem den Vorteil, dass das Tauchen unter Wasser entfallen konnte. Was niemand ahnte, mit dieser Methode stießen wir Muschelsammler auf etwas, das unser Interesse an Muscheln in den Hintergrund drängte. Das war der Moment, als Ralf Mühlenbrock rief: „He, guckt mal, ich habe Patronen gefunden.“ Und tatsächlich: In den Zinken seiner Harke hingen neben drei Muscheln zwei Patronen. Dieser aufregende Fund ließ die Herzen der Jungs höher schlagen. Derart angestachelt, harkten sie den Seeboden noch intensiver ab und konnten am Schluss fast einen halben Eimer voll Karabinerpatronen unterschiedlichsten Kalibers als Ausbeute verbuchen.

Einige Patronen waren stark korrodiert, die überwiegende Anzahl aber in recht gutem Zustand. Einige besaßen einen relativ großen Durchmesser. Bereits nach oberflächlicher Reinigung schimmerte Messing durch die Schmutzreste. Natürlich wussten wir, dass wir mit Patronen nicht spielen durften und ein solcher Fund gemeldet werden musste. Aber auch in diesem Fall galt: Das Verbotene besitzt häufig einen unbeschreiblichen Reiz, dem wir uns nicht entziehen konnten.
Die Muscheln teilten wir gerecht auf.Jeder trug seinen Teil nach Hause und erntete dafür ein Dankeschön von den Eltern. Die Patronen deponierten wir in einem Versteck im Wald. Jetzt hatten wir ein Geheimnis und schworen uns, mit niemand darüber zu sprechen. Das erwies sich als besonders schwer, denn mit solchen Dingen konnte man gegenüber Mitschülern besonders protzen. Ausgerüstet mit Putzlappen und Zangen wurde der Fund am darauffolgenden Tag näher in Augenschein genommen. Die Patronen waren alle scharf. Die Geschosse steckten fest in den Hülsen. Die Zündhütchen an der Unterseite waren unbeschädigt.Mit der Zange entfernten wir die Geschosse einiger Patronen und schütteten das Schwarzpulver auf einen kleinen Haufen. Es war trotz jahrzehntelanger Liegezeit der Patronen im Wasser völlig trocken. Die meisten Geschosse waren vorn spitz und ganz normal mit Stahl ummantelt. Aber bei einigen befand sich anstelle der Spitze eine kleine Vertiefung. Wir wussten, dass es sich hierbei um Dumm-Dumm-Geschosse handelte, die, wurde man von ihnen getroffen, besonders gefährliche Verletzungen hinterließen.
Für uns war vorerst nur das Pulver von Interesse. Wir legten im Sand eine kleine Pulverbahn als Zündschnur und zündeten diese an.Das Ergebnis war enttäuschend. Die Pulverspur brannte, ohne sonderlich viel Rauch zu erzeugen. Dann folgte ein kurzes Fauchen, und der Pulverberg war weg. Da musste doch noch mehr drin sein! Wir kamen auf die Idee, die kompletten Patronen zur Explosion zu bringen. Die ursprüngliche Variante, ein Holzfeuer zu entfachen und die Patronen hineinzuwerfen, verfolgten wir nicht weiter, da die Geschosse unkontrolliert in alle Richtungen fliegen würden.Unser endgültiger Plan sah dann so aus: Im Wald, dicht hinter dem Armeesportplatz, hatten Soldaten einen Unterstand errichtet, der schon jahrelang nicht mehr genutzt wurde. Er bestand aus mehreren Betonsegmenten, die wie Türrahmen aussahen. Sie waren oben gebogen und jeweils etwa einen Meter tief. Davon waren drei in die Erde eingelassen. Der Teil, der noch aus dem Boden herausragte, war mit Sand zugedeckt, so dass sich im Laufe der Zeit ein Hügel gebildet hatte. Die Rückwand unter der Erde war mit Holzbohlen verschlossen, damit der ständig rieselnde Sand nicht eindringen konnte. An der Vorderseite hatte sich der sandige Boden des Klietzer Waldes allerdings schon seinen Weg gebahnt und den Eingang halb verschüttet.

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Karabiner aus dem 2. Weltkrieg

Karabiner aus dem 2. Weltkrieg

Fundstelle im Klietzer See, neben dem ehemaligen NVA-Objekt

Fundstelle im Klietzer See, neben dem ehemaligen NVA-Objekt

Patronen aus dem 2. Weltkrieg

Patronen aus dem 2. Weltkrieg

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Unsere Konstruktion, mit der wir die Patronen zünden wollten, war eigentlich ganz einfach. Sie bestand aus einem kleinen Holzklotz, durch den wir einen 10 Zentimeter langen Nagel trieben. Den Holzklotz nebst Nagel schoben wir durch eine Ritze der Rückwand des Unterstandes über dem Sandfußboden und klemmten dazwischen eine Patrone mit dem Geschoss nach oben und dem Zündhütchen nach unten. Darunter stellten wir eine brennende Kerze.

Keiner von uns wusste, wie schnell und ob überhaupt etwas passieren würde. Also hieß es, nachdem die Kerze unter der Patrone stand, nichts wie ´raus und zur Deckung in den Sand geworfen! Die Sekunden nach dem ersten Versuch zogen sich eine Ewigkeit hin. Wir drei lagen im Sand und starrten in Richtung Eingang des Unterstandes. Dann tauchte die Frage auf, wie wir uns verhalten sollten, wenn gar nichts passierte und die Kerze einfach weiter brannte. Reingehen, nachschauen oder einfach abhauen? Plötzlich hatten wir ein Problem. Aber ehe wir darauf eine Antwort fanden, gab es einen Knall, der uns unsere Nasen automatisch in den Sand drücken ließ, bevor ein Triumphschrei die Spannung löste.

Es klappte also. In der nächsten Stunde detonierte eine Patrone nach der anderen. Abwechselnd übernahmen wir die Aufgabe, die Patrone an der Wand zu fixieren und die Kerze darunter zu stellen. Manchmal reichte die Zeit gerade aus, um aus dem Eingang zu springen und flach im Sand zu landen, da explodierte die Patrone schon. Als unser Vorrat verbraucht war, beschlossen wir, Nachschub aus dem See zu holen. Umgesetzt wurde dieses Vorhaben erst einige Wochen später. Was dabei zum Vorschein kam, machte die Sache noch spannender. Die Munitions-Suchaktion startete an der gleichen Stelle am See. Da in Ufernähe eine weit geringere Ausbeute zu erwarten war, gingen wir so weit ins Wasser, bis wir nicht mehr stehen konnten. Dann tauchten wir ab. An dieser Stelle fanden wir auf dem Grund viele Äste vor, die den Zugang zu den Muscheln erschwerten. Zumindest dachten wir das. Aber weit gefehlt. Ich ergriff einen der vermeintlichen Äste und holte ihn an die Oberfläche. Was ich in der Hand hielt, war kein Ast, sondern ein Karabiner, zwar mit Schlamm und Algen besetzt, ansonsten aber komplett.

Von diesem Fund angestachelt, tauchten wir erneut zum Grund und holten in relativ kurzer Zeit sechs bis acht dieser Waffen aus dem See. Einen solchen Fund hatte niemand für möglich gehalten. Natürlich durfte keiner davon erfahren, sonst wären wir die Waffen sofort wieder losgeworden. Deshalb haben wir die Karabiner, die für uns Knirpse unwahrscheinlich schwer waren, in den Wald gebracht und in den folgenden Tagen versucht, sie wieder in Gang zu setzen. Das gestaltete sich aber schwieriger als gedacht. Zwar schafften wir es, einige wenige Schlösser so los zu bekommen, dass der Patronenlauf frei lag. Aber weiter zu machen, bis man irgendwann mit der Waffe schießen konnte, war uns eindeutig zu mühsam. Außerdem machte uns das Gewicht schwer zu schaffen. So entschieden wir, dass die „Dinger“ zum Spielen nicht taugen.


Um wenigstens unserer Aktion doch noch ein Erfolgserlebnis abzugewinnen, beschlossen wir, unseren Fund bei der NVA zu melden. Alles, was noch an Patronen vorhanden war, steckten wir in die Hosentaschen. Dann marschierten wir zum Einlassposten der Dienststelle in der Heidestraße. Durch das kleine Fenster des Wachhäuschens gab ich zu verstehen, dass wir etwas abgeben wollten. Und dann kramten wir die Patronen aus den Hosentaschen und reichten sie zum Entsetzen der Soldaten durch das Fenster.

„Seid ihr verrückt?“, lautete ihr Kommentar. „Packt die vorsichtig hier hin!“ , ergänzte jemand und wies auf ein Regal. „Da passiert doch nichts. Es ist noch nie ´was passiert“, gab ich zur Antwort und beschämte damit den Soldaten ob meiner vermeintlich besseren Kenntnis im Umgang mit Explosivkörpern. Gemeinsam mit einem Unteroffizier und dem per Telefon informierten ABV, Leutnant Liebsch, radelten wir zur Fundstelle am See und zeigten die Gewehre, die wir im Wald versteckt hatten. Die Moralpredigt, die über uns niederging, hielt sich in Grenzen, weil wir alles freiwillig gemeldet hatten.

Bei einigen Karabinern hatten wir den Holzschaft vom Lauf bereits abmontiert. Als wir den ABV fragten, ob wir wenigstens die Holzschäfte behalten dürften, um dort Stöcke als Läufe zu befestigen, so dass wir damit spielen konnten, stimmte er zu. Das wäre heute nicht möglich. Ganz ohne Folgen blieb das Abenteuer nicht. Das Gebiet am See wurde für die nächsten Tage mit einem Band und einem Schild, das vor Explosivstoffen warnte, abgesperrt. Eines Tages tauchten dort Männer vom Munitionsbergungsdienst auf, die das Gelände absuchten und sogar einen Taucher auf den Grund des Sees schickten. Nach Auskunft des ABV muss auch deren Suchaktion sehr erfolgreich gewesen sein, da sie einen Lkw benötigten, um die Fundstücke, hauptsächlich Munition für Handfeuerwaffen, Gewehre, Pistolen und sogar Handgranaten, abzutransportieren. Vermutlich wurden diese Waffen und die Munition am Ende des Zweiten Weltkrieges spontan im See versenkt. Später wurde publik, dass auch Karabiner und Munition gefunden worden seien, die noch aus dem Ersten Weltkrieg stammen sollten.

In der Schule tauchte ein Offizier der NVA auf, der die Schüler über die Gefahren von Fundmunition aufklärte. Er warnte davor, Fundmunition oder Waffen zu berühren und appellierte an die Zuhörer, Funde dieser Art unverzüglich beim ABV oder der NVA zu melden. Außerdem wies er ausdrücklich darauf hin, dass das Militärgelände, zu dem fast der gesamte Klietzer Wald gehörte und durch entsprechende Warnschilder gekennzeichnet sei, nicht betreten werden dürfe.


Diese Belehrung führte bei mir und meinen Freunden ein knappes Jahr später zu einem schweren Gewissenskonflikt, den wir allerdings auf unsere unbedarfte kindliche Art so lösten, dass wir für einen Tag die Helden an der Schule sein durften. Bei einem unserer unzähligen Streifzüge durch den Klietzer Wald, die selbstverständlich in das verbotene Militärgebiet führten, fanden wir, von Moos und Strauchwerk überwuchert, einen ganzen Stapel von Granaten, die offensichtlich während des Krieges durch die deutsche Wehrmacht oder gegen Kriegsende von sowjetischen Truppen verwendet wurden. Diese 35 bis 40 Zentimeter langen Granaten mit einem Durchmesser von acht oder neun Zentimeter waren stark angerostet. Ihre Spitzen waren etwas abgeflacht. Zum Ende hin liefen sie stromlinienförmig zu. Hinten besaßen sie ein Leitwerk aus mehreren Blechlamellen, die teilweise völlig deformiert und mitunter schon abgerostet waren. Irgendwann im oder nach dem Krieg muss jemand die Granaten gesammelt und vermutlich zum Abtransport an dieser Stelle gelagert haben, was aber nie geschah.
Später stellte sich heraus, dass es sich um Granaten handelte, die für Granatwerfer verwendet wurden. Alle waren noch funktionstüchtig.Uns war klar, dass wir einen sehr gefährlichen Fund gemacht hatten. Wir wussten auch, dass wir ihn unbedingt melden mussten. Und genau da fingen unsere Schwierigkeiten an. Der Offizier, der unsere Schule besuchte, hatte uns auf die Meldepflicht hingewiesen. Außerdem hatte er aber ausdrücklich gesagt, dass es verboten sei, das militärische Gelände im Wald zu betreten.
Was sollten wir tun? Verschwiegen wir diesen Fund und es geschah irgendwann etwas damit, waren wir indirekt daran schuld. Meldeten wir ihn, mussten wir mit einer kräftigen Standpauke rechnen, weil wir uns auf verbotenem Territorium befunden hatten.
Die Lösung war für uns so einfach wie genial, wenn auch ungeheuer riskant. Aber dafür hatten wir noch keinen „siebenten“ Sinn.
Gute 300 Meter von der Fundstelle entfernt, hörte an einem Waldweg der militärische Bereich auf. Das gegenüberliegende Waldstück durfte betreten werden. Wir waren drei Jungs. Auf dem Stapel lagen etwa 15 bis 20 Granaten. Jeder von uns klemmte sich zwei unter den Arm und mit dreimal Hin- und Zurücklaufen hatten wir die gefährliche Fracht aus dem verbotenen in das erlaubte Gebiet transportiert. Zum Nachahmen würde ich das heute niemandem empfehlen. Danach haben wir alles unter Ästen versteckt und teilweise unter die Moosdecke geschoben, so dass es nach unserer Auffassung so aussah, als lägen die Granaten schon ewig an dieser Stelle.Es folgte der zweite Teil unserer „Heldentat“. Wir liefen zum Eingang der Kaserne und meldeten unseren Fund. „Na, ihr schon wieder“, sagte ein Oberfeldwebel, den der Wachtposten nach unserer Meldung zum Tor beordert hatte, fast grimmig. In seinen Worten klang so etwas wie die Ahnung, dass wir wieder einmal Mist gebaut hatten. Er ließ sich den „Fundort“ zeigen und schöpfte von dessen „Verlagerung“ keinerlei Verdacht. Dann notierte er unsere Namen und fragte, in welche Klasse wir gingen. Vorerst war damit das Ereignis für uns erledigt. Das Lob, das wir am nächsten Tag in der Schule erwarteten, blieb aus. Da machte sich bei uns ein wenig Enttäuschung breit, die aber schnell vom Schulalltag verdrängt wurde. Um so überraschender war es, dass beim Fahnenappell am Mittwoch der darauffolgenden Woche unsere Namen aufgerufen wurden und wir vortreten mussten.Der Kommandeur des Pionierregiments hatte an den Direktor geschrieben, von unserer „vorbildlichen Tat“ berichtet und darum gebeten, dieses Vorkommnis entsprechend auszuwerten. Da erhielten wir doch noch unseren offiziellen Heldenstatus und waren Gesprächsthema unter den Schülern. Mit welchem Risiko wir dieses eigentlich nicht verdiente Lob bezahlt hatten, wurde mir erst Jahre später klar, als ich, schon erwachsen, mit Freunden über unsere gemeinsamen Abenteuer erzählte.Quelle: Das Wissen der Region Band 4