Das Sprengstoffwerk Klietz – Segen oder Fluch?

aufgeschrieben von Anneliese und Joachim Steinborn | geboren 1937 | Forstingeneur

Als ich, Joachim Steinborn, 1961 das Revier Klietz des Forstwirtschaftsbetriebes der Nationalen Volksarmee (NVA), später Militärforstwirtschaftsbetrieb (MFB), als Förster übernahm, war ich erstaunt über die Oberflächenstruktur des an Klietz angrenzenden Waldteils von etwa 750 Hektar. Es bot sich mir ein Bild mit vielen Hügeln an Betonstraßen bzw. Waldwegen. Die an drei Seiten aufragenden Hügel ließen auf gesprengte Hochbunker schließen. Auch etliche Straßen wiesen Spuren von Sprengungen auf. Die Natur versuchte die gewesenen Wunden durch Grasbewuchs zu verdecken. Hier und dort begannen Wurzelaustriebe zwischen den lagernden Schuttbergen ihren Kopf zu erheben. Auch einige Kiefernsämlinge konnte ich registrieren. Schnell erkannte ich, dass hier Anlagen zerstört wurden und die Natur dabei war einen grünen Mantel darüber zu legen, um die Vergangenheit unter sich zu verbergen. Was war hier geschehen?

In so manchem Gespräch mit meinen Waldarbeitern, die schon älter waren, insbesondere mit Ernst Ulrich, Herbert Leske, Otto Gericke, aber auch mit Werner Ulrich, Werner Krüger, Hilde Leske, Franziska Mühlenbrock, Karl Hößlinger und nicht zuletzt Heinz Kiehnscherf wurde meine Wissbegier gestillt. Gerade heute, nach den vielen Jahren, bin ich den namentlich Genannten auch den vielen ungenannten Gesprächspartnern dankbar für ihre Wissensmitteilungen. Sie waren Zeitzeugen bzw. hatten ihr Wissen von Zeitzeugen. Viel zu lange wurde diese Zeit ausgeklammert. Fragen, die mir beim Schreiben des Artikels kommen, sind heute nicht mehr so leicht zu beantworten, da viele, die alles hautnah erlebten, bereits verstorben sind. Dankbar bin ich auch Herrn Gerhard Wendland für die ermöglichte Einsichtnahme in seine Materialsammlung.

Ich erfuhr: Nach einer Standortsuche für Sprengstoffwerke im ganzen Reichsgebiet fiel die Wahl auf Klietz. Ausschlaggebend waren die Voraussetzungen, die sich hier boten: Waldreichtum, Wasservorkommen, ebenes und erweiterungsfähiges Gelände, Reichsbahnanschluss, Abgelegenheit und Arbeitskräfteangebot. Die Bevölkerung hatte zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung, was hier einmal produziert werden sollte. 1934 begann die Westfälisch-Anhaltische Sprengstoff-AG (WASAG) mit einer regen Bautätigkeit bei Klietz. Am 11.10.1934 erfolgte die Gründung der Deutschen Sprengchemie GmbH (DSC) als Tochter der WASAG. Im Auftrag des Deutschen Reiches unterhielt die DSC neben Klietz weitere sieben Sprengstoffwerke in Deutschland. (1) Bereits 1935 konnte der 1. Bauabschnitt des DSC-Werkes in Betrieb genommen werden. Die Bunker wurden in Stahlbetonausführung als Hochbunker gebaut. In explosionsgefährdeten Bunkern lag die Decke lose auf den Wänden, da sie sich dann bei einer Explosion anheben konnte. Bei einigen Bauwerken war die vierte Wand nur als leichte, leicht bei einer Explosion heraus drückbare Wand gebaut. Auf die ebenerdig gebauten Anlagen trug man, je nach Verwendungszweck, eine bis 2 Meter starke Erdschicht auf. Die Abdeckung dieser Erdschicht erfolgte mit Rübenschlamm aus der Zuckerfabrik Genthin. Darauf wurden zur Tarnung Bäume und Sträucher gepflanzt. Hoch explosive Anlagen schützte man zusätzlich durch einen sehr hohen Erdwall.

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Das DSC-Werk Klietz hatte den Decknamen „Bismarck“. Man errichtete es in vier Abschnitten, wobei der letzte auf Grund des Kriegsendes nicht beendet werden konnte. Produziert wurde Spreng-Pulver für alle Verwendungszwecke. Die nicht fertiggestellte vierte Anlage produzierte bereits Treibstoff für Raketen. Im Werk gab es verschiedene Produktions- und Versorgungsanlagen, wie Walzstraßen, Press- und Lagerbunker, Öl- und Luftschutzbunker, eine Schlosserwerkstatt, 3 Heizkraftwerke, 2 Wasserwerke und ein Feuerwehrdepot. 873 Gebäude (einschließlich Wohngebäude) gehörten zum DSC-Werk. Das Hauptwerk war mit einem 2 m hohen Zaun aus Maschendraht eingezäunt, der zwei Eingangstore hatte. Das Tor 1 befand sich am Trübenweg in Höhe Feldstraße, das Tor 2 am Ende der heutigen Forststraße, früher Rathenower Straße.

Von den beiden Wasserwerken war eins als Notwasserwerk mit Dieselmotoren ausgestattet und sollte bei Stromausfall die Anlagen versorgen. Beide Wasserwerke lagen an der Straße zum Hohengöhrener Damm und reichten 2 bzw. 3 Stockwerke tief in die Erde. Das elektrisch betriebene Wasserwerk versorgte nach dem 2. Weltkrieg neben dem Ort Klietz weitere Dörfer in der Umgebung. Das Notwasserwerk wurde nach dem Ausbau der Maschinen gesprengt. Das Hauptwerk ist heute teilweise mit Sand verfüllt und dient noch als Fledermaus-Überwinterungsquartier. Eine oberirdische Anlage übernimmt jetzt die Funktion des alten Werkes

Zur Bewältigung der einzelnen Baumaßnahmen wurden Gleise für Feldbahnloren verlegt. Eberhard Blaffert weiß von seinem Vater, Hans Blaffert, dass die im Sand frisch verlegten Schienen manchmal sehr wacklig waren, so dass die Loren umkippten. Für die Bau- und Produktionstätigkeit schuf man ein weit verzweigtes Verkehrsnetz. In einer atemberaubenden Geschwindigkeit wurden Straßen gepflastert oder aus Beton gegossen und Eisenbahnschienen im Gelände verlegt.

Den Güterverkehr wickelte man über ein Verschiebenetz an der Bahnstrecke Sandau- Schönhausen ab. Das Hauptgleis führte an der Badestelle am Großen Klietzer See vorbei und teilte sich dann in die Stränge zum Lokschuppen, zum Auftauschuppen, zum Eisenbahn-Eingangstor des Werkes und zur Laderampe am Trübenweg, die man heute noch am Zaun der Bundeswehrdienststelle erkennen kann.

Es entstand ein werkseigener Umschlagbahnhof mit mehreren weiterführenden Gleisen zu den Produktionsanlagen. Dort wurden Kopf- und Seitenrampen zum Be- und Entladen errichtet. Der innerbetriebliche Transport erfolgte durch kleine Elektrokarren oder zu Fuß. Kurt Schielke erzählte, dass er als Arbeiter im Werk Laboranalysen von einer Halle zur anderen bringen musste. Eine spezielle werkseigene Dampflok wurde aus Sicherheitsgründen nicht befeuert, sondern mit Dampf betankt. Für den An- und Abtransport der Arbeiter gab es mehrere Haltepunkte für Bahn und Busse außerhalb des Werkes. So existierten am Trübenweg acht Bushaltestellen. Für die Arbeiter, die westlich der Elbe wohnten und zur Arbeitsstelle nach Klietz fuhren, wurde ein Plattenweg über Neuermark zur Fähre Arneburg angelegt.

Die Heizwerke befanden sich 4 – 5 Meter unter der Erdoberfläche. Ein Heizwerk gab es hinter dem ehemaligen Kreisbetrieb für Landtechnik (KfL), hinter dem Tor 1 und ein weiteres an der Straße zum Hohengöhrener Damm. Die Werke arbeiteten mit vollautomatischer Bedienung und wurden mit Kohlenstaub befeuert. Die Asche der Heizanlage neben der Straße zum Hohengöhrener Damm wurde unmittelbar daneben abgelagert und hat sich in den Folgejahren mit Sandrohr (Calamagrostis epigejos) bewachsen.

Der Orkan im November 1972 verwüstete den Wald um Klietz sehr stark. In den folgenden Jahren beräumten Waldarbeiter die Fläche rund um die ehemalige Heizungsanlage vom geschädigten Holzbestand. Das Baumreisig wurde zusammengeschoben und anschließend verbrannt, um die Fläche nach dem Einebnen neu bepflanzen zu können. Nachdem die Äste verbrannt waren und es keine Rauchentwicklung mehr gab, überprüfte ich nochmals die beräumte Fläche wegen Waldbrandgefahr. Dabei bot sich der alte Ascheberg als guter Beobachtungspunkt an. Ich versuchte die Höhe zu begehen, doch dann kam die böse Überraschung. Durch das Verbrennen des Reisigs hatte sich die mit Gräsern überwachsene Asche, die noch mit Restkohlepartikeln versetzt war, wieder entzündet. Ich versank in der glühenden Asche und einiges fiel in meine Stiefel. Die Socken brannten sich am Spann in die Haut ein. Die unmittelbar daneben tätigen Mitarbeiter der NVA (Nationale Volksarmee) halfen mir aus der Gefahrenzone. Ein Beweis, dass neben Rest-Sprengstoff in der Erde noch andere Gefahren lauerten.


In den 50er Jahren bis in die 60er Jahre hinein suchten nämlich Kinder immer wieder heimlich das Gebiet des ehemaligen Sprengstoffwerkes nach Sprengschnüren und Ähnlichem ab, wie sich Ralf Mühlenbrock und Lothar Schirmer erinnern können. An den verschiedensten Stellen fanden Kinder unter Sand oder Moos gepressten Sprengstoff in Form von 40 bis 50 cm langen „Makkaronifäden“ bzw. als „10 Pfennig-Plättchen mit Loch“. Zum Glück hat niemand beim Entzünden eine Hand oder einen Finger eingebüßt. Obwohl Schilder standen und alle Schüler in der Schule belehrt wurden, dass das Betreten des Werkgeländes verboten ist, Sprengmittel nicht anzufassen sind, sondern gemeldet werden müssen, trieb die Neugierde sie immer wieder ins verbotene Gebiet. Lothar Schirmer weiß zu berichten, dass sie ihren Fund gern, wie gefordert, melden wollten. Dann käme allerdings das verbotene Betreten des Werkgeländes heraus. Also wurde der Fund umgelagert und dann gemeldet. So sprang sogar eine Belobigung dabei raus.

Die Baustoffe für das Werk transportierte man per Bahn und LKW an. Der Kies wurde bei Hohengöhren und zwischen Klietz und Hohengöhrener Damm abgebaut. Im Südteil des Klietzer Sees sind noch heute die Festlandstreifen für das Aufstellen der Maschinen zum Kiesabbau zu erkennen. Das Kiesloch in der Wiese war Badestelle in Verbindung mit dem ehemaligen Italienerlager und diente auch noch vor Jahren als Badestelle. Heute zeigt es sich als gutes Biotop in einer weiträumigen Wiesenlandschaft. Dem Brandschutz wurde im SCW besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Feuerwehrdepot befand sich 400 m hinter dem Tor 1, heute Lagerplatz der Bundeswehr. An markanten Stellen befanden sich in den einzelnen Anlagen Luftschutzbunker und Lösch-Wasserbecken, wovon eins noch heute als Wildtränke dient. Zur Sicherung der gesamten Anlagen legte man Waldbrandschutzstreifen an. Ihr besonderer Aufbau, breite Laubbaumstreifen mit Birke und Weißerle, Wundstreifen und nochmals ein Laubbaumstreifen, sollte verhindern, dass Waldbrände das Werk gefährden konnten. In den Ölbunkern, in denen man besonders hochexplosive Rohstoffe einlagerte, hatten die Wände und Decken eine besondere Schüttung. Zusätzlich wurden riesige Sandwälle aufgeschüttet, um die übrigen Produktionsbereiche zu schützen. Die Säure-Aufbereitungsstation befand sich aus Sicherheitsgründen etwas abgelegen im Werk.

Im April 1942 produzierte das Werk Klietz 1350 t TNT-Sprengstoff je Monat. Bis 1944 wurde die Produktionsmenge auf 1900 t erhöht. (1) Um die Wirksamkeit der verschiedenen Sprengstoffe zu testen, wurde eine ganz besondere Prüfanlage errichtet. Im östlichsten Teil des Werkes grub man 2 Versuchsanlagen tief in die Erde ein. Von seinem Vater weiß Eberhard Blaffert, dass das Ausschachten per Hand geschah.

Aufmucken durfte keiner, so die Überlieferung. Eine Eisenbahnstrecke führte zum Schießstandgraben. Hier konnte ein gesamter Güterzug versteckt werden. Eine Flakstellung auf der Höhe der heutigen Schießstandbrücke sollte bei möglichen Fliegerangriffen den Zug und einen Teil der Anlagen sichern.Im Übrigen war diese Versuchsanlage nach dem Weltkrieg (jetzt Schießbahn 4) der Ausgangspunkt für den noch heute von der Bundeswehr genutzten, großen Truppenübungsplatz Klietz.

Durch die Errichtung des DSC-Werkes erfuhr die landwirtschaftlich geprägte Region um Klietz einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Einwohnerzahl von Klietz stieg von 650 (1930) auf 1200 (1938) und 1669 (1939). Die ersten Fachkräfte kamen aus anderen DSC-Werken. Viele Arbeitslose aus der Region, aus ganz Deutschland und aus vielen Nachbarländern wie Österreich, Italien, Tschechoslowakei, Belgien, Polen, Frankreich, Weißrussland und der Ukraine fanden in Klietz einen Arbeitsplatz. Alle freuten sich über die gefundene Arbeit. Wohl niemandem war damals bewusst, dass er half Sprengstoff zu produzieren, mit dem Hitler-Deutschland im 2. Weltkrieg so vielen Ländern Leid und Elend brachte. Später, während des Krieges, kamen Kriegsgefangene dazu, so aus Frankreich und der Sowjetunion. Sie wurden bezüglich Freiheit und Verpflegung strenger behandelt als die Freiwilligen. Das Russenlager war extra eingezäunt und die Essen-Rationen waren knapp bemessen. Wollte jemand den Gefangenen Nahrungsmittel zustecken, gefährdete er sich selbst.


In In den Jahren 1936 bis 1938 entstand am Dorf Klietz eine neue Wohnsiedlung am Großen Klietzer See (Seesiedlung). Die einzelnen Straßen hatten Häuser mit unterschiedlichem Komfort, entsprechend der Qualifikation und des Ranges der im Werk Beschäftigten. In der Feldstraße entstanden beispielsweise Häuser für die als Meister tätigen Kräfte. Noch heute findet man mit Leichtigkeit die Villa für den damaligen Direktor bzw. den Chef der Anlage (Seestraße 1). Im Dorf wurden Straßen und der Kirchplatz gepflastert. In den Jahren 1940 bis 1944 baute man am Mahlitzer Weg eine zweite Wohnsiedlung (Mahlitzer- heute Friedenssiedlung). Sie wurde für kinderreiche Familien und Arbeiterfamilien errichtet, konnte aber wegen des Kriegsverlaufes nicht beendet werden. Ein weiterer Wohnkomplex in Richtung NW wurde nicht mehr begonnen. Neben einer Gaststätte in der Mahlitzer Siedlung war sogar ein Bauernhof zur Verwertung der Abfälle der Gaststätte geplant.

Für die Italiener entstand südlich des Klietzer Sees, zwischen der Straße zum Hohengöhrener Damm und dem Trübengraben, das Italiener-Lager mit eigener Verwaltung und Versorgung. Frau Hilde Leske arbeitete hier in der Küche. Im Südteil der Seesiedlung entstand westlich neben der Bockwindmühle das Frauenlager mit Kinderkrippe und Kinderheim. Ein Dorfplatz und auch ein Saal mit Bühne sollten hier ebenfalls entstehen. Die Gestaltungsunterlagen gab es bereits. Unmittelbar am See wurde eine Revierförsterei errichtet. Nach 1945 baute man sie als Zentrale für Telefonvermittlungen aus.

Das Männerlager an der Rathenower Straße (heute Forststraße) und das gegenüberliegende Russenlager wurden, anders als das Frauenlager, nur in Leichtbauweise errichtet. Bauarbeiter waren in massiven Baracken des Seeblickkomplexes untergebracht. Das waren sehr stabile Bauwerke, denn es bereitete nach dem Krieg erhebliche Schwierigkeiten Fenster, oder Türen in den Baracken am Trübenweg zu wechseln. Ein Ledigen-Gästehaus entstand direkt am See. Wenn man die Kriegsbedingungen bedenkt, waren die Bauarbeiter und Freiwilligen relativ gut untergebracht. 1939 übernahm Dr. Gerhard Kaiser die Leitung eines Krankenhauses mit 120 Betten in der Seesiedlung (heute Haus 1 ). Im großen Werk mit über 3000 Arbeitern traten oft Unfälle, Verätzungen und Verbrennungen auf.

Ernst Ulrich aus Klietz arbeitete an der Walzstraße in der Anlage 2, wo die Pulvermasse dünn ausgewalzt wurde. Das war besonders bei hoher Lufttrockenheit sehr gefährlich. Wenn die Pulvermassen in diesen Situationen anfingen zu knistern, suchten die Arbeiter die neben dem Eingang befindliche Brandsicherungsniesche auf. Wer zu langsam reagierte, den hat die Feuerwalze eingeholt und ihm den Rücken verbrannt. So die Aussagen des Arbeiters. Eberhard Blaffert erinnert sich an die Erzählungen seiner Mutter, dass die Flamme, die beim Abfackeln der Walzstraße bei Schichtwechsel entstand, am Horizont bis Lübars sichtbar war. Dr. Kaiser oblag neben der Verantwortung für das Krankenhaus auch die medizinische Betreuung der Bevölkerung des Umkreises einschließlich der Hausbesuche. Doktor Kaiser war Allgemeinmediziner und Geburtshelfer mit dem Hobby Homöopathie. Seine Familie wohnte in der Seestraße 24, gleich neben dem Krankenhaus. Im Garagenkomplex der Seestraße war die rechte Garage als Leichenhalle eingerichtet, wie sich die Tochter von Dr. Kaiser, Dr. Uta Reißlandt, erinnert, da sie heimlich den Leichentransport beobachtete. Wenn Dr. Kaiser Sprechstunden abhielt, parkten Pferdefuhrwerke in langer Reihe in der Seestraße. Uta fuhr ihre Schwester Karla im Kinderwagen aus. Sie fragte sich: „Wie dicht kann ich an die Pferde ran?“ Plötzlich scheute ein Pferd, der Kinderwagen kippte um und Karla hatte ein abgeschürftes Gesicht.

Zum Glück war ein Bauer zur Stelle und beruhigte die Pferde. Die Eltern schimpften mit Uta, sie müsse besser aufpassen! Dass sie einen Test ausgeführt hatte, davon erzählte Uta nichts. Es kam vor, dass Dr. Kaiser zur kranken Oma gerufen wurde, der Bauer ihn aber erst zur Entbindung einer Kuh in den Stall führte. Eine Kuh war eben sehr teuer. Die Frau von Dr. Kaiser war dann entsetzt über das Aussehen ihres Mannes bei seiner Heimkehr. Hausbesuche mit einem organisierten F7, dem ein Motor vom F8 eingebaut worden war und der schwarz-weiß-rot angestrichen war, stellten schon einen Fortschritt dar. Die Autotür ließ sich nur nach hinten öffnen. Wenn Dr. Kaiser für seine Dienste Naturalien erhielt, steckte er diese in die Taschen seiner knielangen Joppe. Dann kam es auch mal vor, dass sich Autotür und Eier nicht miteinander vertrugen. Was tun? Dr. Kaiser trank den Eierbacks aus seiner Tasche, denn schließlich waren Eier ein wertvolles Nahrungsmittel. Im Garagenkomplex in der Seestraße war die linke Garage als Schweinestall mit einem Hühnerstall darüber umgebaut. Schweine- und Geflügelhaltung trugen zur Selbstversorgung bei. Frau Kaiser kochte nämlich nicht nur für die eigene Familie, sondern auch für den Hausmeister, Schwestern und weitere Angestellte.

Am 20.04.1945 wurde der Ort Klietz durch die Amerikaner von Arneburg aus mit Artillerie beschossen. Zusätzlich startete eine Flugzeugstaffel zur Bombardierung der Ortschaft. Während der Ort Klietz zu 60% zerstört wurde, blieb das Sprengstoffwerk verschont.


Über die letzten Kriegstage in Klietz berichtete der Ukrainer Gritschenko, Wasil, Maksimowitsch in seinem Brief vom 23.02.2000 an den Bürgermeister von Klietz, den Alma Herms ins Deutsche übersetzte. Ihn brachte man Im Mai 1942 mit anderen Kriegsgefangenen in das Werk Klietz 2. Nach einer allgemeinen Einweisung wurden die Ostarbeiter verteilt. Wasil Gritschenko arbeitete ab Juni 1942 an der Walze Nr. 24, Abteilung 4, Lagernummer 32. Hier war er bis zum Ende seines Aufenthaltes in Klietz tätig.
Gleich am 1. Arbeitstag gab es ein besonderes Vorkommnis. Er verbrannte sich im Gesicht, an Händen und Füßen. Auch sein Mentor, ein Rumäne, erlitt Verbrennungen. Ein Deutscher, Ewald, der täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit kam, war für die schnelle Hilfe verantwortlich. Er telefonierte und Wasil Gritschenko wurde ins Lagerkrankenhaus, eine Baracke gegenüber dem Lagertor Rathenower Straße, gebracht. Da er kein Deutsch verstand, zeigte die Krankenschwester auf sich und sagte: „Ich Lore“. Das erinnerte ihn an die Lorelei von Heine. Von dem Moment an war Lore wie eine leibliche Schwester für ihn. Diese Freundschaft wird er nie vergessen. Leider wurde Lore bald versetzt, vermutlich an die Front, denn sie war noch ledig. Für Lore kam Marie, die wahrscheinlich aus dem Ort kam und Mutter war.

Nun aber zu den Schilderungen von Wasil Gritschenko über die letzten Kriegstage:

Am 12.04.1945 überschossen die Amerikaner das Lager; es gab Tote. Seinem Freund Palaschenko, Iwan Iwanowitsch, wurde der Kopf durch Splitter zerschlagen. Dessen Freundin Gulkowa, Maria, rannte zu ihm und wurde am Bauch getroffen. Ein Franzose aus dem mittleren Bunker rettete Maria in einem günstigen Moment in seinen Bunker. Nach dem Beschuss trugen sie Maria ins Lagerkrankenhaus, wo sie aber dann auch verstarb. Wasil Gritschenko half die Toten zu bergen. Da der Lagerführer von der Freundschaft der beiden Toten wusste, befahl er, sie im Grab zusammenzulegen. Wasil Gritschenko schrieb auf ein Stück Papier:

Palaschenko, Iwan, Iwanowitsch
1923 – 1945
Bezirk Kiew
Kagarlik

Eine Flasche mit diesem Zettel legte er mit in das Grab und bedeckte es mit Erde. Es gab weitere Tote. Der Friedhof für Lagerinsassen befand sich etwa 300 m von der Umzäunung der Fabrik nördlich des Feldlagers. Viele der Deutschen wurden an der Westseite der Kirche beerdigt. Seine Kenntnis hatte Wasil Gritschenko daher, weil er wie andere Fremdarbeiter beim Begraben half. Wasil Gritschenko erinnert sich auch, dass der Heldenfriedhof nahe der heutigen Forststraße im April 1945 17 Gräber mit Holzkreuzen hatte. Vom 19. bis 20. April 1945 wurde sein Lager von den Amerikanern bombardiert. Die Lagerarbeiter schickte man mit ihren Koffern auf einen sicheren Platz. In einem passenden Moment flüchteten sie in eine gemauerte Baracke und dann in ihren Bunker. Dort blieben sie bis der Sturm zu Ende war. Wasil Gritschenko sah, wie viele Häuser im Dorf, die Krankenhausbaracke und die Baracke, in der die Mädchen aßen, brannten.Das gesamte Ausmaß des Leides kannte er nicht. Zu zehnt holten sie ihre Koffer und rannten in Richtung Norden durch den Wald und weiter nach Schollene. Die Polnische Armee, die am 04.05.1945 Klietz besetzte, wurde am nächsten Tag von der Roten Armee abgelöst. Das Werk beendete damit die Pulverproduktion.

1975 berichtete ein sowjetischer Aufklärer den Pionieren der Schule Klietz von seinen Kriegserlebnissen in ihrem Heimatgebiet. Er gehörte zu einer Gruppe von Aufklärern, die am 6. oder 7. Mai die Havel bei Rathenow überquerten und in Richtung Elbe über Grütz, Neu Schollene in das kleine Dorf Ferchels zogen. Hier trafen sie russische Flüchtlinge, die ihnen erzählten, dass sich in der Gegend vor Klietz ein unterirdisches Werk befände und in den Bunkern viele ausländische Arbeiter eingesperrt seien. Die Aufklärer beeilten sich, dorthin zu kommen. Ohne die Straße zu benutzen, begaben sie sich durch den Wald. Rechts und links von ihnen detonierten

Geschosse der deutschen Wehrmacht, die das Treffen der sowjetischen Armee mit der amerikanischen an der Elbe zu verhindern suchten. Plötzlich hörten sie vor sich einen langanhaltenden Sirenenton. Da sahen sie auch schon das eingezäunte Werk. Am Zaun hing eine Tafel mit der Aufschrift „Vorsicht Hochspannung.“ Was tun? Sie mussten schnellstmöglich in das Werk, hatten aber keinen Sprengstoff. Einer der Aufklärer sagte: „Einer von uns muss versuchen durch den Zaun zu kommen. Vielleicht ist er doch nicht unter Hochspannung.“ Der erste Aufklärer kroch durch und gelangte wohlbehalten ins Werk. Die anderen Soldaten folgten und alle staunten über die asphaltierten Straßen und die Bunker.

Sie konnten viele französische, polnische und russische Arbeiter befreien, die sehr froh darüber waren. In Begleitung der Befreiten kamen die Aufklärer nach Klietz. Es begegneten ihnen viele friedliebende, aufgeschlossene Menschen, unter ihnen sicher viele Eltern und Großeltern. Andere schauten voller Misstrauen und Angst auf die Ankömmlinge. Man hatte ihnen gesagt: „Wenn die Russen kommen, werden sie eure Männer erschlagen und Frauen und Kinder nach Sibirien verschleppen.“ Als sie aber sahen, dass die russischen Soldaten ihnen nichts taten, sondern ihnen halfen, verflog die Angst und sie gewannen Vertrauen. In Klietz erfuhr die Gruppe, dass der Krieg zu Ende sei. Gemeinsam mit den Dorfbewohnern feierten sie am 9. Mai den Tag des Sieges über den Faschismus. Eine Woche blieben sie noch in Klietz und zogen dann über Molkenberg weiter.

Die Maschinen des DSC-Werkes wurden demontiert, in Holzkisten verpackt und als Reparationszahlung der Russischen Besatzungszone von der Roten Armee per Eisenbahn abtransportiert. So geschah es in der Folge auch mit den vielen Eisenbahngleisen.


Frau Dr. Uta Reißlandt weiß zu berichten, dass die Familie gerade mit dem Essen fertig, war als plötzlich ein Russe vom Panzer aus direkt ins Esszimmer sah. Die Russen beanspruchten das Krankenhaus und die Wohnung der Familie Kaiser für ihre Kommandantur. Das Krankenhaus wurde in einen Bunker umquartiert, wo auch die Familie Kaiser zunächst Quartier bezog. Gerade in den letzten Kriegstagen gab es viele Verletzte und Kranke, die auf Tragen in den breiten Gängen des Bunkers vor dem OP-Raum auf ihre Behandlung warteten. Frau Dr. Reißlandt kann sich noch an die vielen blutenden Patienten erinnern. Eines Tages wurde Dr. Kaiser, wie auch andere, zum Verhör in die Kommandantur bestellt. Die Vernehmungen zogen sich sehr lange hin. Dr. Kaiser war durch die lange Wartezeit unterzuckert und regte sich deshalb auf: Er müsse nach Hause um etwas essen zu können!

Er käme dann wieder. Daraufhin durfte er gehen. Alle Dagebliebenen wurden erschossen. Ob einige darunter Selbstmord begingen, wusste niemand zu sagen. Jeder Leitungsträger trug nämlich ein Röhrchen mit Blausäure bei sich. Die Tochter, Uta, von Dr. Kaiser sollte einmal Vaters Hose holen. Dabei entdeckte sie ein Röhrchen und fragte natürlich: „Was ist das?“ Vater erklärte den Zweck. Daher ihre Kenntnis. Dr. Kaiser ging nicht wieder zur Kommandantur zurück und war so der einzige Überlebende der zum Verhör Bestellten. Als das Krankenhaus wieder in das ursprüngliche Gebäude zurück zog, erhielt Dr. Kaiser Unterstützung durch einige Ärztinnen. Sie kamen auf die Idee, die Türen mit „Vorsicht Typhus“ zu versehen. Es war bekannt, dass die Russen vor ansteckenden Krankheiten Respekt hatten. Da sie selber keinen Arzt hatten, fragten sie Dr. Kaiser, ob er die Behandlung ihrer Leute mit übernehmen würde. Er sagte zu, wenn er dafür Naturalien bekäme. So wurden jeden Tag Kisten bzw. Säcke mit Nahrungsmitteln in der Vorküche abgestellt. Dr. Kaiser konnte dadurch seine Krankenhauspatienten täglich mit drei Mahlzeiten versorgen.

Nach Kriegsende waren Läuse, Wanzen und Flöhe eine Plage. Nicht nur Matratzen waren voll Ungeziefer, auch ein alter Krankenwagen, der zum Krankentransport genutzt wurde und der Privatwagen wurden befallen. Auch in diesem Fall wusste Dr. Kaiser eine Lösung. In einem Rohr neben den Hühnerställen wurde Feuer gemacht. Der Hausmeister, Wilhelm Wulkau, schob dann Matratzen in das Rohr, die durch die Rauchgase ungezieferfrei wurden. Nach der Auslüftung konnten die Matratzen wieder im Krankenhaus verwendet werden. Auch die Autos wurden ausgeräuchert.

Links am Krankenhaus gab es eine Kläranlage. Darin gelagerter Koks hielt die Grobteile der Fäkalien zurück. Als die Russen Brennmaterial benötigten verfeuerten sie auch den Koks der Kläranlage. Frau Dr. U. Reißlandt kann sich noch heute an den besonderen „Duft“, der überall in der Luft lag, erinnern. Die nach 1945 für Klietz zuständigen Politiker wollten, dass alles, was zu den Gräueltaten Hitlers beigetragen hat, vernichtet wird. Deshalb wurde das gesamte DSC-Werk in den Jahren 1945 bis 1952 demontiert und abgerissen. Die Nutzung der Gebäude und Anlagen, wofür es Bedarf gab, z.B. von den Optischen Werken oder als großes Kühllager, wurde abgelehnt. Die Bevölkerung, auch aus den Nachbarorten, holte sich Baumaterial, um die Kriegsschäden zu beseitigen. Die restlichen Anlagen sprengte man. Hierüber berichteten Otto Gericke und Herbert Leske sehr oft, weil sie von 1948 bis 1952 bei der Demontage arbeiteten. Die Sprengstoffe für die Sprengung der Bunker wurden in dem damals noch intakten Raum „Geophysik“ gelagert. Der ehemalige Eingang zu diesem Raum wird heute als Fledermaus-Überwinterungsquartier genutzt. Von hier holten die Arbeiter den Tagesbedarf an Sprengstoff zur Zerlegung der Anlagen. Sprengstoff, der am Tag nicht verbraucht wurde, sollte abends zurückgebracht werden. Die Wege waren aber oft sehr weit. Deshalb legte man die explosive Masse einfach unter eine Straße oder unter eine Betonplatte und jagte sie in die Luft.

Im Osten der heutigen Friedenssiedlung gab es ein Gemeinschaftshaus mit Konsumverkaufsstelle, bereits fertiger Wäscherei und einem rohbaufertigen Kulturhaus mit geplanter dreh- und versenkbarer Bühne sowie einen Saal für 896 Personen. Dieses und ein begonnenes Krankenhaus wurden abgetragen. Auf der Betonwanne des Krankenhaus-Wirtschaftsgebäudes errichtete man das heute noch stehende Ambulatorium. Das Krankenhaus in der Seesiedlung wurde noch bis 1953 von Dr. Kaiser geleitet. Durch sein medizinisches Wirken und die Art und Weise des Umganges mit den Patienten hat er sich große Hochachtung in der regionalen Bevölkerung erworben. Als das Krankenhausgebäude von der KVP beansprucht wurde, sollte das Krankenhaus umziehen und sich dabei verkleinern. Damit war Dr. Kaiser nicht einverstanden und verließ deshalb Klietz. Er fand als Assistenz- bzw. als Oberarzt an der Leipziger Orthopädischen Klinik seine neue Wirkungsstätte. Die Seeblickbaracke diente nach 1945 als Schule, später als Nähstube und wird heute teilweise vom Bauhof der Gemeinde Klietz und Unternehmen genutzt. Das Frauenlager baute man nach dem Abzug der russischen Streitkräfte als Kaserne für die KVP (Kasernierte Volkspolizei) um. Heute gehören die Gebäude zum Truppenübungsplatz der Bundeswehr Klietz.

Das Verwaltungsgebäude des Werkes diente zunächst als Lungenheilstätte der SVA (Sozialversicherungsanstalt) unter der Leitung von Dr. Hans Bleckwenn. Da die klimatischen Bedingungen in Klietz nicht günstig waren, verlegte man die Heilstätte nach Dresden. Der Gesamtkomplex wurde dann Tbc-Lazarett für die Kasernierte Volkspolizei, danach Schulungsobjekt der NVA, gehörte später dem Militärwissenschaftlichen Institut (MWI) und gehört heute der Bundeswehr. Etliche, die wegen der Arbeit im Sprengstoffwerk zugezogen waren bzw. bei der Demontage arbeiteten, blieben nach dem Krieg in Klietz und fanden hier Beschäftigung. Ein großer Arbeitgeber war die Forstwirtschaft, denn es mussten viele abgebrannte Waldflächen beräumt und wieder aufgeforstet werden. Werner Krüger, der als Elektriker im Werk gearbeitet hatte, machte sich selbstständig und reparierte später elektrische Geräte.

Durch die Errichtung des DSC-Werkes wurde Klietz ein wichtiger Industriestandort mit einem sehr guten Verkehrsnetz und hervorragender Infrastruktur. Die vielen Menschen, die hier Arbeit fanden, waren froh über den gefundenen Arbeitsplatz und machten sich keine Gedanken über die Folgen der Verwendung des produzierten Pulvers. Im Nachhinein, als das gesamte Ausmaß des Krieges und der Kriegsfolgen deutlich wurde, mochte niemand mehr über die Pulverfabrik sprechen. Schlussfolgernd aus der Sprengstoffproduktion für Kriegszwecke sollte sich jeder einzelne Bürger mit mehr Verantwortungsbewusstsein an der gesellschaftlichen Entwicklung beteiligen und alles tun, damit der Menschheit nie mehr unendliches Leid durch Tod und Vernichtung zugefügt wird.


Quellen: (1) WASAG, Die Geschichte eines Unternehmens 1891 – 1966
von Wolfram Fischer, Dunker & Humblot Berlin
Quelle: Das Wissen der Region Band 4