Spurensuche: Italiener besucht historische Orte
Federico Rizzetto war Kriegsgefangener bis zum Ende des zweiten Weltkrieges im Klietzer Sprengstoffwerk
Ildefonso Rizzetto reiste mit seiner Familie aus dem Norden Italiens nach Sachsen-Anhalt, um in Klietz Orte zu besuchen, an denen sein Vater Federico als Kriegsgefangener in einem von sieben Werken der Deutschen Sprengstoffchemie (DSC) arbeiten musste. Ein Tag voller historischer Rückblicke mit interessanten, aufgeschlossenen Menschen einer neuen Generation.
Von Lothar Schirmer | 20.08.22
Ildefonso Rizzetto (62) mit seiner Frau Daniela und seinen Kindern Arianna und Alberto, am „Kiesloch“ südlich vom Klietzer See, wo sich das Lager der italienischen Gefangenen befand. Fotos: Lothar Schirmer und Archiv Lothar Schirmer
Klietz | Unser Dorf hat mit seinem See und dem Wald viel Natur zu bieten, der Museumshof und die Bockwindmühle machen interessante Einblicke in die Geschichte möglich. Der Badestrand und ein gutes Hotel sorgen für einen angenehmen Aufenthalt aber ein Hotspot für internationalen Tourismus ist Klietz eher nicht. Wenn sich trotzdem Italiener aus der Nähe von Como entscheiden den weiten Weg (1008 km) in Kauf zu nehmen, hat das einen besonderen Grund. Eine Reise in die Vergangenheit.
Angefangen hat es mit einer Mail, die in meinem Postkasten landete. In deutscher Sprache, die ein Übersetzungscomputer mit einigen Ecken und Kanten aus dem Italienischen verwandelte, fragte Ildefonso Rizzetto (kurz Ilde genannt) ob er mit seiner Familie nach Klietz kommen könne. Auf der Internetseite „Klietz-am-See“ hat er über das Sprengstoffwerk gelesen, in dem sein Vater als Kriegsgefangener interniert war.
Die Geschichte des Sprengstoffwerkes begann im Jahr 1934. Die Westfälisch-Anhaltinische Sprengstoff AG (WASAG) gründete als Tochterunternehmen die Deutsche Sprengstoffchemie GmbH (DSC), die in Klietz das Sprengstoffwerk erbaute und betrieb. Das eher landwirtschaftlich geprägte Klietz mit seinen 650 Einwohnern (1930) erfuhr einen wirtschaftlichen Aufschwung und wuchs auf 1969 Einwohner (1939). Aus allen Teilen Deutschlands zog es Fachkräfte nach Klietz. Aber auch Menschen aus den Nachbarländern wie Österreich, Italien, Tschechoslowakai, Belgien, Polen Frankreich, Weißrussland und der Ukraine kamen freiwillig, um hier zu arbeiten. Keiner von ihnen ahnte wohl, dass er Sprengstoff produzierte, mit dem später ein faschistisches Deutschland andere Länder überfiel.
Plötzlich Kriegsgefangener
Für den Vater von Ilde kam die Kriegsgefangenschaft plötzlich und unerwartet. Italiener, die zu Kriegsbeginn als Verbündete Hitlers kämpften, zählten seit dem 8. September 1943 als Gegner des Deutschen Reiches. Die Alliierten hatten Teile Italiens besetzt, Mussolini wurde abgesetzt und Italien schloss einen Waffenstillstand mit den Alliierten. Von diesen Ereignissen wusste der 20jährige Frederico Rizzetto nichts, als er zu diesem Zeitpunkt von der Deutschen Wehrmacht auf dem Bahnhof in Florenz verhaftet wurde. Seine Odyssee als Kriegsgefangener begann im Strafgefangenenlager Altengrabow (STALAG XI-A). Deutschland suchte dringend Arbeiter für die Kriegsproduktion, deshalb wurde er kurze Zeit später nach Klietz verlegt.
Ilde Rizetto am Denkmal für die Kriegsgefangenen in Altengrabow, dem damaligen Sitz eines Teilbetriebs der Deutschen Sprengchemie GmbH (DSC)
Die erste Begegnung
Ich gestehe, dass ich aufgeregt war, als ich die italienischen Gäste beim Frühstück im „Reiterhof Kuhn“ in Neuermark traf. Sie sprechen kein Wort deutsch und ich nicht italienisch. Meine Englischkenntnisse halten sich nur unwesentlich über dem Schulniveau und mit dem Übersetzungsprogramm in meinem Smartphon habe ich noch nie gearbeitet. Um es vorwegzunehmen: es hat bestens funktioniert. Die aufgeschlossene, sympathische Familie begegnete mir mit herzlichem Lächeln und einer großen Portion Neugier. Ilde sagte, dass er zu den Geschichten, die sein inzwischen verstorbener Vater ihm von der Zeit als Gefangener berichtete, unbedingt die Orte dieses Lebensabschnittes sehen wollte. Also rein in mein Auto und ab nach Klietz.
Ilde Rizzetto an der Grabstätte ausländischer Kriegsgefangener auf dem alten Friedhof in Klietz
Ilde Rizzetto mit Tochter Arianna und Sohn Alberto beim Besuch der Kriegsgräberstätte im Klietzer Wald
Rizzetto erzählt mir, dass in italienischen Schulen Geschichte nur bis in die 20er Jahre vermittelt wird. Das unrühmliche Kapitel des Faschismus und die gemeinsame Kriegführung mit Hitler-Deutschland wird weitgehend verschwiegen. Ihm liegt es am Herzen, dass seine Kinder (16 und 19 Jahre) davon erfahren und so eine lebensnahe Vorstellung davon bekommen was Krieg und Faschismus bedeuten. Die Schrift auf der Gedenktafel an der Kriegsgräberstätte im Wald lautet „Den Opfern des Krieges, der Gefangenschaft, Flucht, Vertreibung, Gewaltherrschaft und Internierung“. Als ich ihm die Worte übersetze, sagt er, dass es gut ist, dass die Nachkriegsgenerationen nicht nur ihren Opfern gedenken, sondern allen, denen durch diesen Krieg Leid zugefügt wurde.
Stationen einer Reise in die Geschichte
Ein Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs in Klietz nach 1934 sind die Häuser in der Seesiedlung. Hier fanden Meister, Ingenieure und Betriebsteilleiter mit ihren Familien ihr Zuhause. Größe und Komfort der Häuser sind nach der Stellung im Betrieb gestaffelt. Bei unserem Besuch schauen wir uns auch die Villa des Direktors des Sprengstoffwerkes an. Heute ein schmuckes Kleinod im Besitz einer Klietzer Familie.
Das riesige Gelände des Sprengstoffwerkes ist seit Jahren Schießplatz der Bundeswehr und darf nicht betreten werden. Die Ringstraße um den gesamten Bereich ermöglicht dennoch kleine Einblicke in die Vergangenheit. In Verlängerung der Forststraße fahren wir in den ehemaligen Bereich des „Männerlagers“. Unweit davon sind Eingänge zu Munitionsbunkern der Bundeswehr zu sehen, die damals zum Sprengstoffwerk gehörten. Sandhügel und Senken lassen ahnen, wie die Gebäude auf dem Werksgelände verteilt waren. Hallen für die Pulverherstellung waren oberirdisch. Dicke Betonmauern hatten eine lose aufgelegte Betonplatte, die sich im Falle einer Explosion leicht anheben konnte. An den Wänden und auf dem Dach wurde Erde aufgeschüttet, die bepflanzt wurde. So war die Anlage im Krieg aus der Luft schlecht zu erkennen. Viele dieser Gebäude waren an der Rückseite mit einer Holzwand ausgestattet, die als Sollbruchstelle den Explosionsdruck nach außen entweichen ließ und so den Schaden in der Halle begrenzte. Neben vielen Halleneingängen war eine Nische eingebaut, in die die Arbeiter bei Explosionsgefahr flüchten konnten.
Ehemaliger Produktionsbunker im Sprengstoffwerk Klietz
Eingang zum Produktionsbunker. Die Nische rechts diente den Arbeitern und Kriegsgefangenen bei Explosionsgefahr als Schutzzone.
An der Ostseite des Klietzer Sees steht im Wald das ehemalige Verwaltungsgebäude des Sprengstoffwerkes. Heute wird es von der Bundeswehr genutzt. Unser Weg führt uns zum Südende des Sees. Dort, neben dem „Kiesloch“, standen die Baracken des Italienerlagers, in dem Ildes Vater gefangen gehalten wurde. Er erzählte seinem Sohn, dass sie an einem Tag Ende April 1945 in den Morgenstunden aufgewacht sind und es im Lager verdächtig ruhig war. Keine Kommandos die zum Appell riefen, keine Fahrzeuggeräusche. Die Wachsoldaten der Wehrmacht waren alle verschwunden. Federico Rizzetto machte sich gemeinsam mit den anderen Gefangenen auf den Weg Richtung Elbe. Hier konnte er als Letzter in ein völlig überladenes Boot springen und die Elbe überqueren, bevor sein Weg in Richtung Heimat begann.
In der Landschaft ist nichts mehr von den ehemaligen Gebäuden zu sehen aber meine italienischen Gäste wurden spürbar ruhiger und ernst, als wir auf der Wiese am „Kiesloch“ standen. Ein rührender Moment, in dem Ilde mir mit einem „Danke Lothar“ die Hände umfasst und zu verstehen gibt, dass wir alle dafür sorgen müssen, dass so etwas nie wieder geschieht.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen im Land-gut-Hotel „Seeblick“ mache ich mit meinem Besuch noch einen Abstecher ins Kloster Jerichow, nach Tangermünde, Arneburg und dann über die Fähre nach Sandau, wo eine durstige Reisegruppe spontan zu einer Erfrischung bei meiner ehemaligen Schulkameradin Berta Meyer eingeladen wurde.
Am Morgen dieses Tages habe ich mit Herzklopfen vier unbekannte Italiener begrüßt. Zwölf Stunden später habe ich mich von neuen Freunden verabschiedet. Eins noch: So lustig und laut, mit viel Lachen und Begeisterung, ging es in meinem Auto noch nie zu. Italiener eben!
Beim Mittagessen im „Seeblick“ v.l.n.r. Alberto, Arianna, Lothar Schirmer, Ilde Rizzetto, Daniela Rizzetto
Begeisterung beim Besuch des alten Schulzimmers in der Gaststube „Exempel“ in Tangermünde
Quelle: Bericht von Anneliese und Joachim Steinborn über das Sprengstoffwerk auf der Internetseite www.klietz-am-see.de